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#mentalhealth auf Tik Tok & Co.: Inspiration oder Manipulation?

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#mentalhealth auf Tik Tok & Co.: Inspiration oder Manipulation?

Mentale Gesundheit ist schon lange kein Tabuthema mehr. Ganz im Gegenteil, es hat sich zu einem echten Trend in den sozialen Medien entwickelt. Influencer*innen auf der ganzen Welt teilen ihre Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen und bieten der Community die Möglichkeit, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Doch gehen mit dieser neuen „Awareness“ ebenfalls große Gefahren einher. In diesem Blogbeitrag werfen wir einen genaueren Blick auf den Trend und geben dir wertvolle Tipps, wie du die richtigen Inhalte für dich finden kannst.

Vom stigmatisierten Thema zum Trend

Noch nie war das Thema mentale Gesundheit so gefragt wie aktuell bei Jugendlichen und Erwachsenen. Beiträge dazu schießen in den sozialen Netzwerken wie Pilze aus dem Boden. Allein auf Instagram gibt es rund 48 Millionen Beiträge zu #mentalhealth. Über Tik Tok kommen sogar etwa 120 Milliarden Aufrufe zusammen.

Doch wie kam es überhaupt zu diesem Trend? Wie konnte es passieren, dass psychische Erkrankungen, welche zuvor stark stigmatisiert wurden, nun so viel Aufmerksamkeit bekommen?

Eines ist sicher: Hilfesuchende gibt es in Deutschland zu Genüge. Laut der DGPPN ist jeder vierte Erwachsene in Deutschland psychisch krank – die Tendenz ist weiter steigend. Es gibt also einen großen Bedarf an Unterstützung, jedoch fehlen die dafür nötigen Angebote. Der Therapieplatzmangel in Deutschland ist katastrophal. Betroffene müssen im Schnitt bis zu fünf Monate auf einen Platz warten. Neben dem Therapieplatzmangel spielt auch die eigene Überwindung eine entscheidende Rolle. Für viele Betroffene ist die Hürde der Suche nach einem/einer passenden Psycholog*in zu groß.

Eine Lösung hierfür bieten die Social-Media-Plattformen. Diese haben sich innerhalb der letzten Jahre vor allem während der Corona-Pandemie als Safe Space für Themen rund um die Psyche etabliert. Jeder kann sich ganz einfach von zu Hause aus einen Account erstellen, ohne notwendigerweise seine wahre Identität preiszugeben. Langes Warten auf psychische Beratung gibt es ebenfalls nicht, dafür gibt es doch die Influencer*innen.

Welche Vorteile bringt die Kommunikation von psychischen Erkrankungen über Social Media?

Normalisierung und Aufmerksamkeit

Zu lange wurden psychische Krankheiten verteufelt und betroffene Personen als „abnormal“ und „verrückt“ erklärt. Durch #mentalhealth Content erhält das wichtige Thema der mentalen Gesundheit endlich die Aufmerksamkeit, welches es verdient. Erkrankte werden gehört, bekommen Unterstützung und können sich sicher fühlen.

Kontaktmöglichkeiten und Austausch

Social Media ermöglichen den Kontakt von Gleichgesinnten, den es früher nicht gab. Jugendliche können sich austauschen und gegenseitig unterstützen. Es kann dazu führen, dass sie sich weniger allein fühlen. Laut Dr. Mai Thi Nguyen-Kim haben Jugendliche, die unter einer psychischen Krankheit leiden, in der Regel genauso viele Online-Kontakte wie „gesunde“ Jugendliche. Dies ist äußerst erstaunlich, da Betroffene oftmals zur Isolation neigen.

Aufmerksamkeit für professionelle Hilfsangebote

Viele Plattformen und auch Influencer*innen berichten nicht nur von ihren eigenen Erfahrungen, sondern machen explizit auch auf professionelle Hilfsangebote aufmerksam. Sie können die Community dazu ermutigen, sich professionelle Hilfe von Expert*innen zu suchen.

Social Media als Safe Space

Auf Social Media finden betroffene Menschen andere Personen, die sie nicht verurteilen, sondern verstehen. Sie können sich jemandem anvertrauen, sich öffnen und dabei sogar anonym bleiben, falls gewünscht. Zudem müssen sie sich keinen beängstigenden Situationen aussetzen, wie zum Beispiel das Haus verlassen bei einer Sozialphobie.

Erste Hilfe

Zwar ersetzen solche Videos keine echte Therapie, jedoch können Jugendliche sich erste Tipps zum Umgang mit ihrer Erkrankung holen. Sie bekommen möglicherweise ein erstes Verständnis dafür, was in ihnen überhaupt vorgeht, welche Gründe das haben kann und wie sie vorübergehend damit umgehen können.

Wie gefährlich ist der #mentalhealth Trend wirklich?

Hört sich das nicht alles toll an? Wer braucht bei so vielen Vorteilen schon noch eine richtige Therapie? Falsch gedacht. Vorteile hin oder her, die Kommunikation psychischer Erkrankungen auf TikTok und Co. kann auch äußerst gefährlich sein.

Verharmlosung

Ach wusstest du‘s schon? Ein wenig frische Luft schnappen, ein Schaumbad nehmen und Selfcare betreiben – schon sind deine Depressionen wie weggeblasen. Psychische Krankheiten werden auf Social Media oftmals banalisiert. Dabei schaffen es Betroffene oft nicht einmal, sich zu duschen, weil ihnen die Kraft fehlt. Es muss bedacht werden, dass trotz des Themas, das aufgegriffen wird, Social Media in den meisten Fällen weiterhin das bleibt, was es ist – eine Scheinwelt.

Mental Wellness: Luxusurlaub auf Rhodos gegen Depressionen 💎

Ein abscheuliches Beispiel der Influencerin Cathy Hummels zeigt, wie skrupellos psychische Erkrankungen verniedlicht und ausgenutzt werden. Diese organisierte über ihr Unternehmen „Events by CH“ zuletzt ein Luxusretreat namens „Strong Mind Retreat“ auf Rhodos und publizierte dieses schamlos über Social Media. Ganz nach dem Motto: Mit ein bisschen Luxus und Sonne bekommst du deine Depressionen schnell wieder in den Griff. Doch die Reaktionen darauf waren alles andere als positiv. Stattdessen sorgte dieses respektlose Projekt für einen großen Shitstorm. Verwunderlich? Auf keinen Fall. Wer auf so ein wichtiges und ernst zu nehmendes Thema hauptsächlich aufmerksam macht, um Geld damit zu verdienen, braucht sich über Empörung von außen nicht zu wundern.

Weiterer Kritikpunkt dieses Projektes waren die zahlreichen Werbepartner und deren Produkte, welche praktisch ununterbrochen präsentiert wurden. Alles natürlich nur, um die mentale Gesundheit zu fördern. Wer’s glaubt.
Auch auf diesen Punkt, die schamlose Ausnutzung des Trends, wird später noch genauer eingegangen.

Du möchtest mehr über den großen Skandal um das „Strong Mind Retreat“ erfahren? Dieses Video klärt dich auf:

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Falsche Selbstdiagnose

„Problematisch wird es dann, wenn ich tatsächlich keine Depression habe, aber durch die Inhalte denke, dass ich depressiv sei.“

Psychologin: Siri Frericks

Du leidest unter Appetitlosigkeit? Dann bist du eindeutig depressiv. Doch warte mal – auch verstärkter Appetit, kann ein Anzeichen für diese Erkrankung sein? Das wird wiederum in den etlichen Videos nicht erklärt. Ein Beispiel wie dieses zeigt, dass psychische Erkrankungen auf Social Media häufig auf ein paar Symptome reduziert werden. Doch das ist falsch und verantwortungslos, denn psychische Krankheiten sind äußerst komplex. Vielmehr muss bei einer eindeutigen Diagnose jeder Mensch individuell betrachtet werden und darauf aufbauend eine professionelle Einschätzung stattfinden. Folglich ermutigen solche Videos häufig zur meist falschen Selbstdiagnose.

„Nimm den Finger runter…“: Depression Edition ✋🏼

Eine beliebte Social Media Challenge, welche oft als psychologischer Selbsttest angepriesen wird, ist die „Nimm die Finger runter…“ Challenge. Auch dir ist diese Challenge bestimmt schon das eine oder andere Mal begegnet. Vor allem Challenges wie diese fördern falsche Selbstdiagnosen und können verheerende Folgen mit sich ziehen.

Die Influencerin Sophie Lauenroth liefert auf Tik Tok ein Beispiel, wie leichtfertig mit solch ernsten Themen umgegangen wird.

Abb. 1: Die „Nimm den Finger runter, wenn…“ Challenge

Scheintherapie

Ob die Influencer*innen es wollen oder nicht: Für viele Betroffene erweckt oftmals alleine das Schauen der Videos das Gefühl, dass dies eine Therapie ist. Die meisten dieser Influencer*innen haben jedoch kaum eine Ahnung von dem, was sie da sagen bzw. tun. Die meisten von ihnen sind keine echten Expert*innen, sondern geben sich nur dafür aus, um sich als vertrauenswürdige Personen in der Community zu präsentieren.

Verzweifelt suchen viele User Antworten auf Ihre Fragen. Und was bekommen sie? Nichts. Oder noch schlimmer, sie erhalten falsche Antworten. Zudem wird ihr Vertrauen häufig schamlos ausgenutzt.

Abb. 2: Beispielhafte Kommentare unter #mentalhealth Content

Ausnutzung des Trends

„Dir geht es schlecht, du fühlst dich heute wieder depressiv? Diese Nahrungsergänzungsmittel bewirken Wunder.“ Haben sich nun die Zuschauer*innen fälschlicherweise selbst mit einer psychischen Krankheit diagnostiziert, hat der/die jeweilige Influencer*in aka scheinheilige Ersatztherapeut*in natürlich sofort das vermeintliche Heilmittel dafür parat.

Nicht nur wir erkennen den #mentalhealth Trend, sondern auch Unternehmen, die versuchen, ihre Produkte damit in Verbindung zu bringen und zu verkaufen. Natürlich spielen da viele Influencer*innen gegen ein wenig Geld gerne mit und nutzen skrupellos die Nähe und das Vertrauen der Community für Werbezwecke aus.

Das perfekte Geschenk: „Wunderkapseln“ gegen die Winterdepression 💊

Ja, selbst beim Thema mentale Gesundheit gibt es für viele Influencer*innen keinen Halt. Sie scheuen sich nicht davor, ununterbrochen Werbung für ihre vermeintlichen Wunderprodukte zu machen, um auf Kosten der Gesundheit ihrer Community ein paar Kröten zu verdienen.

Ein passendes Beispiel liefert Sophie Lauenroth auf ihrem Tik Tok Kanal. Neben einem Haufen „psychologischer Tipps“ muss natürlich hin und wieder eine Werbeanzeige eingestreut werden.

Denn natürlich müssen die Influencer*innen auch irgendwie ihre Brötchen verdienen. Ob die Wunderkapseln nun wirklich gegen eine Winterdepression helfen, ist höchst fraglich. Sind sie vielleicht für den einen oder anderen sogar gefährlich? Das interessiert den/die Influencer*in doch nicht – Hauptsache das Geld stimmt. Unglaublich absurd, findest du nicht auch?

Aber hey, deinem/deiner Lieblings-Influencer*in kannst du doch sicherlich bedingungslos „vertrauen“ 😉

Abb. 3: Werbung für „Wunderkapseln“

Kleiner Tipp:
Falls du dich fragst, wie vertrauenswürdig einige Influencer*innen hinsichtlich Ihrer Werbung wirklich sind, dann schaue dir unbedingt mal die Experimente von Marvin Wildhage an:
Fake Produkt
Fake Film

Trigger

Ein Mädchen, welches Drogen konsumiert, weil es den Druck ihrer psychischen Erkrankung nicht mehr standhält oder eines, welches wegen eigener Gefährdung gerade vom Krankenwagen abgeholt wird. Erschreckende und verstörende Bilder, welche trotz Richtlinien der Social Media Plattformen und der kontinuierlichen Kontrolle durch Content-Moderator*innen nicht vollständig vermieden werden können.

Besonders bei Erkrankungen wie Selbstverletzung oder Suizidgedanken kann der Content auf Social Media Betroffene stark triggern. Vor allem, wenn Personen immer wieder mit dieser Thematik konfrontiert werden, kann die Erkrankung verstärkt werden. Blöd nur, dass der Algorithmus von TikTok & Co. genau das bewirkt. Ein- oder zweimal ein Video zu diesem Thema angeschaut, gibt es kein Entkommen mehr. Ständig werden dir Videos dazu angezeigt.

Sich ein paar Postings anzuschauen, ist eine Sache – sich stundenlang auf TikTok mit Inhalten zu beängstigenden Diagnosen und Leidensgeschichten zu bombardieren, ist eine andere. Die heutige Sucht nach sozialen Medien in Verbindung mit diesem Algorithmus der Plattformen kann starke Trigger bei psychisch erkrankten Personen auslösen. Letztendlich kann dies sehr irreführend und im schlimmsten Fall höchst gefährlich sein.

Tipps für den richtigen Umgang mit dem #mentalhealth Trend

Finde echte, ausgebildete Expert*innen

Ja, es gibt neben den zahlreichen Alibi-Psycholog*innen aka selbst ernannten Therapeut*innen tatsächlich echte und professionelle Expert*innen auf Social Media, die wertvolle Tipps liefern können. Kontrolliere das nächste Mal, wenn du dir #mentalhealth Content anschaust, wem du deine Aufmerksamkeit schenkst.

Beispielhafte Accounts

diepsychotherapeutin – Anke Glaßmeyer
freundefuerslebenev
millennial.therapist – Dr. Sara Kuburic

Vermeide belastende Inhalte

Lass dich nicht allzu schnell verunsichern. Versuche zu identifizieren, welche Infos korrekt und hilfreich für dein Problem sind. Hat dich der Beitrag gerade getriggert? Dann halte Abstand davon und schaue dir lieber wieder süße Katzenvideos an 🐱.

🚩

Achte auf „red flags“

Dir wird schon wieder eine Duftkerze zur Bewältigung deiner schlechten Stimmung empfohlen? Dann weißt du ja, was Sache ist. Denke immer daran: Influencer*innen versuchen damit Ihr Geld zu verdienen. Lass dich und deine psychische Gesundheit nicht ausnutzen!

Social Media = Scheinwelt

Auch wenn durch das Thema #mentalhealth wieder ein bisschen mehr Realität in die sozialen Netzwerke gebracht wird, sind diese größtenteils weiterhin eine Scheinwelt. Und ja, sogar psychische Erkrankungen werden hier verniedlicht. Mache dir bewusst, dass vieles, was du siehst, nicht der Realität entspricht.

🧑‍⚕️

Suche dir abseits von Social Media Hilfe

Ja, Social Media ist toll und kann dir durchaus helfen, aber eine professionelle Therapie kann es in keinem Fall ersetzen. Schäme dich nicht, dir außerhalb der digitalen Welt Hilfe zu suchen.

Du bist selbst betroffen und hast das Gefühl, du brauchst mehr Hilfe?

Hier findest du ein paar Anlaufstellen, die dir helfen können:

  • Krisentelefon der Telefonseelsorge:
    • Wann? Wenn du Soforthilfe benötigst.
    • Die Hotline ist täglich 24 Stunden erreichbar, anonym & kostenlos.
    • 📞 0800 1110111
    • 📞 0800 1110222
    • 💻 https://www.telefonseelsorge.de/
  • Stiftung Deutsche Depressionshilfe:
    • Wann? Wenn du eine Übersicht von Anlaufstellen in der Nähe suchst.
    • 💻 https://www.deutsche-depressionshilfe.de/start
    • 📞 0800 3344533
  • Scheue dich auf keinen Fall davor, in einer akuten Krise auch den Notruf zu wählen.
    • 📞 112

Diagnose: Ist der #mentalhealth Trend auf Social Media nun gut oder nicht?

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die vermehrte Kommunikation über mentale Gesundheit ein großer Meilenstein ist. Es ist wichtig, psychische Erkrankungen zu normalisieren. Social Media bietet vor allem für Jugendliche eine tolle Möglichkeit, sich mit anderen Leidensgenoss*innen auszutauschen und vielleicht erstmalig Tipps zu erhalten. Die Gefahren dieses Phänomens sollten jedoch immer im Hinterkopf behalten werden. Schließlich treiben sich viele selbst ernannte Therapeut*innen auf den Plattformen herum, die zum einen irreführende Informationen liefern und zum anderen oftmals nur etwas verkaufen möchten. Letztendlich ist es wichtig, eine gewisse Distanz aufzubauen und immer zu hinterfragen, was richtig ist und was einem guttut.

Die Probleme in den sozialen Medien sind jedoch eigentlich das Ergebnis eines viel tiefgreifenderen Problems, nämlich des Therapieplatzmangels in Deutschland. Solange dies nicht verbessert wird, werden Influencer*innen wie oben gesehen weiterhin die einzige schnelle und niederschwellige „Hilfe“ für Betroffene sein. Und sind wir mal ehrlich: Wo soll das bloß hinführen?

Bild- und Videoquellen

Titelbild: Eigene Darstellung mit Canva

Abb. 1: Eigene Darstellung mit Canva (Tik Tok Account von Sophie Lauenroth)

Abb. 2: Eigene Darstellung mit Canva (Kommentare aus verschiedenen Tik Tok Videos)

Abb. 3: Eigene Darstellung mit Canva (Tik Tok Account von Sophie Lauenroth)

Videoquelle – ZDF: https://www.zdf.de/show/mai-think-x-die-show/maithink-x-folge-23-100.html (Stand: 10.06.2023)

Eingebundenes Video: https://www.youtube.com/watch?v=c5Y0EwqJwD4 (Stand: 10.06.2023)